Feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen

In sieben Büchern hat sich Daniela Dahn mit der deutschen Einheit und deren Folgen befasst. Nun hat sie noch ein weiteres geschrieben, denn die Zeiten sind danach. Nach dreißig Jahren Vereinigung ist die innere Spaltung zwischen Ost und West leider tief wie eh und je.

Wenn man das Buch liest, und es liest sich flüssig, so spürt man den Zorn der Autorin beim niederschreiben ihrer Abrechnung. Und eine Abrechnung ist es durchaus geworden.

Was hat die „friedliche Revolution“ den Menschen in Ost und West also gebracht? Viele Annehmlichkeiten, aber revolutioniert wurde nichts.

„Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Für die Sieger war das schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte. Das Neue bestand darin, den alten Spielregeln beizutreten. Kaufen und sich kaufen lassen.“

Die Geschichte des Anschlusses der DDR an die BRD ist eine Geschichte von Demütigungen, einer tätigen Verachtung ihrer Kultur, Literatur, Wirtschaft und sozialen Infrastruktur, die immer weiter fortwirkt. Dagegen steht eine geschichtsvergessene Ignoranz, die das Denken in Alternativen entsorgt hat. Wie ein gewisser Pädagogikprofessor Niermann schon 1991 die DDR als Hort von Drill und Duckmäusertum entlarvt zu haben meint – und in seiner übergroßen Weisheit das prächtige Wort von der DDR-Intelligentia (!) erfand, deren Erkenntnisse nicht mal das Papier wert seien, auf denen sie gedruckt wurden. Dies und anderes über DDR-Wissenschaft findet sich in dem Gutachten dieses „DDR-Experten“, das er im Deutschen Bundestag vortrug. Delegitimieren und Demütigen war die Devise jener Jahre. Einem damaligen Justizminister wird 1991 folgende Aussage zugeschrieben: „Wir werden sie (DDR-Elite) nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den sozialen Rand drängen“.

„Die Logik der Macht setzte sich, wie damals absehbar war und heute offensichtlich ist, über politische Vernunft hinweg.“ – eine weiterhin gültige Erkenntnis der Autorin.

Erstmals beschäftigt sich die Autorin auch mit der Frage, wie das Ende des sozialistischen Systems die Welt verändert hat. Sie kommt zu dem Schluss, dass die „siegreiche“ Demokratie überall an Vertrauen verloren hat, weil sie von den Eliten, die sie tragen sollen, permanent entwertet wird.

Eine gemeinsame Erinnerungskultur, die sich beschönigender oder dämonisierender Legenden verweigert, gibt es in Deutschland bedauerlicherweise bisher noch nicht.

Daniela Dahn gibt sich streitbar und kompromisslos, sie reizt auch gern zum Widerspruch, doch vielen ihrer Folgerungen ist absolut beizupflichten. Sehr lesenswert.

Wolfgang Hoffmann

Autor:Daniela Dahn
Titel:Der Schnee von Gestern ist die Sintflut heute. Die Einheit – Eine Abrechnung.
Herausgeber:Rowohlt Taschenbuch; 5. Edition (17. September 2019)
Preis:14 €
ISBN:978-3-499001-0-48
Umfang:288 Seiten